Wir erobern die Welt und umgekehrt

Die nachfolgenden Beiträge sind ein persönlicher Rückblick der Trainers der Dierkower Elche auf die Entwicklung der Manschaft seit 1993.

Der Ur-Elch

Der Dierkower Ur-Elch tauchte im November 1993 das erste Mal auf anlässlich eines Schulausfluges nach Trelleborg. An Bord eines Dampfers fand ihn, achtlos in einer Grabbelkiste platziert, umgeben von vielerlei Tand, ein unterbeschäftigter Pädagoge. Er nahm ihn zu sich, nannte ihn Herbert und ließ ihm Schal und Wollhose stricken. Herbert wurde fortan das Maskottchen der Rugby-AG des Albert-Schweitzer-Gymnasiums zu Dierkow, urbanes Aushängeschild einer an sich unbedeutenden Hansestadt. Autor: Heinrich Severin

Auf dem Weg zum aufrechten Gang

Im Oktober 1993 hatte sich als Folge eines Aushangs im Korridor des Schulhauses eine Schar von etwa 25 jungen Jugendlichen zusammengefunden, um auszuprobieren, was es mit Rugby Union Football auf sich hat. Der Trainer, bis zu diesem Termin fast gänzlich unbedarft in Sachen Rugby, versammelte diese Schar auf einem schmalen Streifen Wiese an der Haupteinfallstraße nach Dierkow um sich, ließ sie mit zwei Bällen zunächst Passen und Laufen üben und war froh, seinen Schützlingen wenigstens einen Lernschritt voraus zu sein. Die Trainingseinheiten, bis heute zwei pro Woche, waren geprägt von Enthusiasmus, bangen Momenten, wenn der Ball auf die stark befahrene Straße kullerte und kontinuierlichen Anforderungen an Waschmittel und -maschine. Als besonders gelungen galt die unfreiwillige Konfrontation mit einer Tretmine, von denen eine ausreichende Anzahl ausgelegt war.

Frauenpower

Mit Anja Kersten, Nicole Bringezu und Kristin Bohk befanden sich auch drei Mädchen unter den Rugbyverrückten, die zunächst aufgrund der Unterrepräsentation ihres Geschlechtes nicht weiter spielten, jedoch maßgeblich an der Entstehung einer Truppe von Geschlechtsgenossinnen beteiligt sein sollten.

Der Chaos RFC

Alle arbeiteten auf den Buß- und Bettag 1993 hin, als es das erste Mal in die deutsche Hauptstadt ging, zum Berliner RC, dessen Vorsitzender Fritz Feyerherm dafür zu rühmen ist, dass der Rugbysport in Rostock heimisch werden konnte. Auf seine Einladung hin machten sich 35 Spieler und Fans mit der Deutschen Bundesbahn auf den Weg in die Jungfernheide. Das noch existierende Video von dem Spiel gegen die gesammelten Anfänger des BRC beweist eindrucksvoll, dass Chaos Erfolg zu gebären vermag. Die Haufe aus Rostock obsiegte, verlor aber durch ihren Magier Martin Staib eines ihrer zwei Spielgeräte, welches dieser in einen Baum getreten hatte, der ihn nicht wieder hergeben wollte. Im kollektiven Gedächtnis der Veteranen der ersten Stunde bleibt auch René Kramers „Versuch“ sechs Meter vor dem gegnerischen Malfeld.
Den Winter 1993/94 verbrachten wir damit, uns permanent gründlichst einzusauen, denn naß, wie die Jahreszeit war, stand unser Trainingsgeläuf häufig unter Wasser. Einige Elternteile verweigerten bereits die Behandlung der Textilien in der Waschmaschine, um die Funktionstüchtigkeit letzterer fürchtend.

Kloppe

Der SC Germania List zu Hannover, eine weitere ehrwürdige Rugbyinstitution, gab sich die Ehre, uns in sein Domizil einzuladen. Also wurde die Landeshauptstadt Niedersachsens Anfang März 1994 heimgesucht. Gegen die Gleichaltrigen der Germania war kein Blumentopf zu gewinnen, doch immerhin konnten die Elche das erste Mal in echten Rugbytrikots spielen, auch wenn diese nur geliehen waren. Eine weitere Premiere war der Besuch einer Begegnung der Männervertretung des DRV gegen Welsh Districts, eine walisische C-Auswahl, die sich als zu stark für die Männer in Weiß erwies. Den Elchen und ihren Anhängern bereitete die Veranstaltung trotzdem Plaisir, und drei Wochen später war man wieder zur Stelle, um sich nochmals von den Germanen verkloppen zu lassen und um zu beobachten, wie die marokkanische Nationalmannschaft mit den Gegebenheiten des gewissermaßen arktischen Frühlings zurecht kommen würde. Sie tat es nicht so gut wie die Hausherren, hatte aber die ästhetischeren Trikots an. Apropos: ein leuchtendes Rot zierte nun einheitlich die Oberkörper der Elche, denn der Zeugwart des SV Hafen Rostock von 1961 e.V. hatte vom textilen Notstand der Rugbyspieler erfahren, war in seine Kleiderkammer gestiefelt und hatte doch tatsächlich einen Satz ausrangierter Fußballhemden erspäht und rausgerückt. Danke, Rainer Grünke.

Wir erobern die Welt und umgekehrt

Siegburg, tief im Westen. Noch hinter Bochum. Deutsche Schulmeisterschaften im Rugby sind angesagt, und das Albert-Schweitzer-Gymnasium ist dabei. Über 20 Elche machen sich per Bahn samt Zelten, Schlafsäcken, Bergen von Essen auf den Weg, um zu sehen, was passiert, wenn angeleitete Autodidakten in wohlgeordnete Strukturen eindringen. Man freut sich über unsere Teilnahme, sind wir doch die ersten aus den NEBULÄ, die sich zum Bundesfinale der Schulen trauen. Was beim Turnier passiert, verschlägt uns die Sprache. Nach siegreichen Spielen gegen Bildungseinrichtungen aus Bonn, Aachen, Berlin und anderen Kleinstädten finden sich die Elche im Finale wieder. Dort gelingt es ihnen nicht, dem Schulzentrum Weyhausen (bei Wolfsburg) ihr Chaos aufzuzwingen. Ihr Engagement und ihre Fairness bringen den Alberts jedoch trotz der Niederlage heftigen Applaus bei der Siegerehrung ein.

Auch wollen (Frauenpower II)

Die Begeisterung über den unverhofften zweiten Platz in Siegburg hielt während der kommenden Monate an und bewog einige Mädchen, es auch mit unserem Sport zu versuchen. Als sie genügend Spielerinnen zusammen hatten, es waren derer zwölf, nahm die zweite Trainingsgruppe ihren Betrieb auf, gefolgt von der dritten, den B-Schülern (11/12 Jahre), deren Zahl im Laufe des Sommers auf über zwanzig anwuchs. Der Rugbysport, in Germanien ohnehin ziemlich wenig verbreitet, fristet gerade im Mädchen- und Frauenbereich ein (mediales) Mauerblümchendasein, so daß es sich schnell herumspricht, wenn irgendwo das weibliche Geschlecht dem einzig korrekt geformten Ball nachjagt. So erreichte die Dierkower Elche im Spätsommer 1994 ein Anruf aus der Freien und Hansestadt Hamburg, genauer gesagt vom FC St. Pauli, zum damaligen Zeitpunkt deutscher Vizemeister der Frauen. Und ebendiese luden die Mädchen ein, um mit ihnen Rugby zu spielen. Da ein Trainer schlecht drei Mannschaften trainieren und betreuen kann, ohne dem Zustand völliger Verwirrung anheimzufallen, was nur zu augenfällig war, erklärten sich mit Franka Mattick und Manuela Klein zwei Spielerinnen bereit, die B-Schüler anzuleiten, ein Unternehmen, welches die beiden mit Gewissenhaftigkeit und Begeisterung angingen, das jedoch letztendlich am geringen Altersunterschied zwischen Trainerinnen und Spielern und dem damit verbundenen Zustand der Disziplinlosigkeit scheiterte.

VereinsmeierInnen

Im Oktober 1994 hingen über sechzig Jugendliche dem Rugbysport in Rostock an, so dass es an der Zeit war, sich über eine andere Organisationsform als die der Schul-AG Gedanken zu machen. Der SV Hafen Rostock von 1961 e.V. bot uns eine sportliche Heimat im Stadtteil Stadtweide. Für uns alle war das eine große Umstellung, denn nun konnten wir nicht mehr vor der Haustür trainieren, sondern mussten durch die halbe Stadt fahren. Im nunmehr einst kinderreichsten Viertel Deutschlands gab es und gibt es bis heute keinen wettkampftauglichen Sportplatz, weder für Rugby noch für Fußball. Für manchen Fahrgast, insbesondere denjenigen, der bereits etliche Sommer hinter sich gebracht hatte, waren die Fahrten mit der Straßenbahn wie Ausflüge in der Geisterbahn, wurde er doch zweimal wöchentlich ohne Zusatzkosten von kleinen Monstern geplagt, die nicht nur prächtigen Lärm produzierten, sondern auch ausgewählte Essensreste und Körperausscheidungen großzügig verteilten.

Emanzipation

Für die Sportfreunde, die der runden Variante des Balles nachjagen, sind Menschen, die mit einem Ei spielen, auf-, über- und untereinander liegen, ungewohnt, und bei unserem ersten Turnier haben wir etliche Zuschauer, die ihre Neugier stillen und unserem sportlichen Engagement freundlich Beifall spenden. Selbst die sich als wichtig einschätzende Ostsee-Zeitung ist durch einen Redakteur vertreten. Dummerweise werden auch Jugendliche immer älter und beanspruchen spätere Trainingszeiten, so dass es zu ersten Reibereien mit den Sportfreunden vom Fußball kommt: verbale Entgleisungen seitens unserer Spieler, haltlose Anschuldigungen durch einige Baslers und ein Platzwart aus dem Klischeebuch, der nicht gerade zu einer Steigerung des Wohlfühlfaktors beiträgt. (Warum hat bis heute niemand einen abendfüllenden Film über den deutschen Platzwart gedreht?)

Im Verband des roten Adlers

Was tun, wenn man wie Kevin zwar nicht allein zu Hause ist, doch einsam in MeckPomm seinem Sport fröhnt? Einen Landesverband zu gründen, verbietet die Satzung des LSB, so dass wir uns, um überhaupt am Wettkampf betrieb teilnehmen zu können, dem Rugbyverband Brandenburg anschließen. Dort wird unsere Existenz wohlwollend begrüßt, aber wir haben auch die erste (unheimliche) Begegnung mit Vertretern des 27-fachen DDR-Meisters Stahl Hennigsdorf und ausgesuchten, indigenen Exemplaren dieses Gebäudeensembles vor den Toren Berlins. Auf der Sitzung, auf der wir darum bitten, als assoziiertes Mitglied am Spielbetrieb mit B- und A-Schülern sowie den Mädchen teilnehmen zu dürfen, wird sogleich von Hennigsdorfer Seite darauf verwiesen, dass wir zwar Tabellenerster, jedoch nicht Brandenburger Meister werden könnten. Man fürchtet die Konkurrenz. So entstehen Antipathien, die nicht dadurch überwunden werden, dass viele der jugendlichen und erwachsenen Hennigsdorfer Rugbyspieler den ersten Auftritt der Mädchenmannschaften aus Velten, Birkenwerder und Rostock mit Hohn und Spott bedenken. Zudem versuchen einige selbsternannte Großdeutsche, von denen einer in der Tat noch zuvor fragte, ob man Nazi mit „tz“ schreibt, unsere Spieler auf dem Weg vom Platz tätlich anzugreifen. Ein wenig Genugtuung erfahren die Jugendspieler der Dierkower Elche 1996 bei einem Punktspiel gegen die Stahlstädter in Berlin, welches sie völlig verdient mit 19:17 für sich entscheiden. Hiernach gibt es keinen Kontakt mehr mit Hennigsdorf, außer bei einem Turnier 1997 in Velten, wo H-Dorf das bessere Ende für sich hat.

Autor: Heinrich Severin